9.

Er sah deutlich die ganze Geschichte wieder lebendig werden, und ein Schwindel ergriff ihn, wenn er an all das dachte, was bei diesem Stande der Dinge jeder Tag bringen konnte.

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Rainer Wiederschein arbeitete, wie schon so oft in seinem Leben, als Kellner, diesmal in der Bremer Altstadt. Es war schwere Arbeit, die er hier zu verrichten hatte, denn sie hatten nicht nur im Parterre des schmalen Hauses im Schnoor ihre Tische stehen, sondern auch in der ersten Etage, doch trotz des vielen Treppensteigens war er immer fröhlich und stets zu Scherzen aufgelegt. Jeder Tag war ein Geschenk für ihn, denn eigentlich hätte er in Tegel im Gefängnis sitzen müssen. Ja, es war ein Glück, dass er dem Schlachtfeld Berlin mit nur kleinen Blessuren entronnen war. Und er schmiedete bereits wieder große Pläne. Jetzt, wo er Angela nicht mehr am Hals hatte, da … Ein lautes Hallo riss ihn aus seinen Träumen.

»Da ist er ja!« In der Tür stand Werner Woytasch. »Ich wusste doch, mein Lieber, dass ich Sie hier in Bremen irgendwo finden würde.«

»Ja, in Bremen ist alles etwas kleiner als in Berlin, nur im Fußball sind wir um einiges größer.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Wiederschein führte den Gast aus Frohnau zu einem abgelegenen Tisch unter der nach oben führenden Treppe, sodass man, war etwas weniger Betrieb, ein paar Minuten ruhig miteinander plaudern konnte.

»Ich bin zu einer kommunalpolitischen Tagung hier«, erzählte Woytasch. »Oben im Bürgerpark. Und da komme ich mit einem Genossen aus Bremen ins Gespräch, der früher öfter mal mit mir in Ihrem ›à la world-carte‹ gegessen hat, und der erzählt mir, dass Sie hier im Schnoor gelandet sind. Also bin ich natürlich gleich her, um Ihnen Guten Tag zu sagen.«

»Eine gute Idee«, antwortete Wiederschein und setzte sich einen Augenblick neben Woytasch an den Tisch. Der Wirt sah das nicht gern, aber: na und?

Woytasch rechnete einen Augenblick. »Fünf Jahre ist es nun her, seit Sie aus Frohnau weg sind …«

Wiederschein lächelte. »So ist es. Wenn man total pleite ist, bleibt einem nur noch die Flucht. Und da Angela hier Verwandte hatte, sind wir nach Bremen gegangen.«

»Was macht denn Ihre Frau?«, fragte Woytasch.

»Keine Ahnung.« Wiederschein machte eine hilflose Geste, indem er beide Arme weit ausbreitete. »Wir haben uns getrennt, als sie zu den Hare-Krishna-Leuten in den Hunsrück gezogen ist. Die haben da ihren Tempel in einem Ort mit dem schönen Namen Abentheuer. Von da ist sie wohl nach Indien.«

Woytasch lachte. »Früher ist sie immer unserem lieben Pfarrer Eckel hinterhergelaufen – und jetzt sind es die indischen Götter. Mir war aber so, als hätte ich sie letztes Jahr noch bei uns oben in Frohnau gesehen …«

»Das muss ein Irrtum gewesen sein«, sagte Wiederschein schnell.

»Und wie geht es Ihnen so?«

»Danke, gut. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich nie mehr Angst um mein Geld haben muss, dass die Aktienkurse fallen und meine Fondspapiere nichts mehr wert sind, denn ich habe so viele Schulden, dass mir jeden Monat bis auf das Existenzminimum alles weggepfändet wird.«

Woytasch nickte mitleidig. »Ist denn das Restaurant wirklich so schlecht gelaufen?«

Wiederschein stöhnte auf. »Nach der Umstellung auf den Euro immer schlechter. Und wenn die Leute gastronomisch was erleben wollten, sind sie in die Innenstadt gefahren. Jede Zeitung hat ja wöchentlich ein neues Sternerestaurant angepriesen.«

Woytasch blätterte in der Speisekarte. »Dabei war ja Ihre, wenn ich das hier so sehe … Kükenragout, pfui. Aber Ihre Villa steht nach wie vor leer und verfällt so langsam, ein Käufer hat sich noch immer nicht gefunden. Es geht das Gerücht, dass sie da ein Altenheim bauen wollen, so richtig first class, dazu brauchen sie allerdings das Grundstück nebenan, aber die Laubach will nicht verkaufen.«

»Die lebt auch noch …«, murmelte Wiederschein. »Und sorgt weiterhin dafür, dass die Atmosphäre ringsum schön vergiftet wird. Ist sie denn nun glücklich, dass sie den Schönblick wieder als Nachbarn bekommen hat, den großen Wirtschaftsweisen …?«

Woytasch schüttelte sich. »Diesen gekauften Dreigroschenjungen der Konzerne? Wenn die ihm 10.000 Euro zahlen, weist er uns wissenschaftlich nach, dass nur ein Mindestlohn von 10 Cent die Stunde die Zukunft Deutschlands sichern kann.«

»Und was gibt es sonst Neues in Frohnau?«, fragte Wiederschein, den das Politische nach wie vor nicht interessierte.

»Eigentlich nichts, außer dass da draußen bei uns ein pensionierter Kriminalkommissar herumschnüffelt …«

Wiederschein versuchte, sein Erschrecken zu verbergen. »Gräbt der noch einmal unter meinem Kirschbaum nach?«

»Sozusagen ja, denn Klütz hat wohl sein Geständnis widerrufen. Offiziell hält man das für Quatsch und macht nichts weiter, aber dieser Mannhardt, so heißt er, und natürlich auch ein paar Journalisten, sind nun wieder hinter der Geschichte her. Ich bin auch deswegen hier, um Ihnen zu sagen, dass da was an dummen Fragen auf Sie zukommen könnte. Mietzel hat mir erzählt, dass man bei ihm in der Kanzlei schon herumspinnt, dass Sie mit der Sandra Schulz was gehabt hätten und … Ach, lassen wir das!«

 

*

 

›Erlernen Sie das edelste aller Handwerke, das Schreiben. Erfüllen Sie sich einen lang ersehnten Traum und halten Sie Ihr erstes gedrucktes Werk so in den Händen wie einen Sohn oder eine Tochter. Glauben Sie den Worten von William Stafford: »Das Schreiben ist eine Quelle der Freude, ein Weg, auf dem es viel zu entdecken gibt. Wer sein eigenes Leben schreibend verfolgt, vertrauensvoll und gelassen, empfindet die Welt immer als einladend und rätselhaft, als unermessliche Sphäre, die lebendige Realität und Unberechenbarkeit des Traums miteinander vereint.‹

Dieser Werbetext hatte Wiederschein gefallen, und so hatte er, nachdem Angela aus seinem Leben verschwunden war, den großen Belletristik-Kurs in einer Schule des Schreibens belegt. Nach gut einem Jahr hatte er seinen ersten Roman zu Ende geschrieben, und das Manuskript lag nun bei einem renommierten Verlag. Jeden Tag rechnete er mit einer begeisterten Antwort des Lektorats, denn der Plot war einfach hinreißend. Als Arbeitstitel hatte er ›Der Urug‹ gewählt, was sich ergab, wenn man Guru verkehrt herum las. Es ging in dem Buch darum, dass ein fürchterlich gestresster westlicher Manager nach Indien geht, um dort in einem Ashram ein anderer zu werden und den Weg zur Weisheit und zum wahren Leben zu finden, am Ende aber der Guru unter seinem Einfluss den ganzen ›esoterischen Firlefanz‹ zu hassen beginnt und mit ihm nach Berlin flüchtet, um in der Managementzentrale einer indischen Firma endlich seine Potenziale auszuschöpfen.

Kochte die Sache mit Schulz und Klütz jetzt wieder hoch, sah er gute Chancen, mit seinem Roman wahrgenommen zu werden und in die Talkshows zu kommen, zumal sein Held vor seiner indischen Episode in Berlin Ähnliches erlebt hatte wie er, das heißt, in Verdacht geraten war, jemanden ermordet zu haben. Wiederschein wusste, dass so ein bunter Vogel wie er bei ernsthaften Journalisten wie bei allen schnell bewegten Kulturfuzzies gute Karten hatte, und er erhoffte sich von seiner Rolle als Bestsellerautor ein neues Leben. Irgendwie würden die Leute merken, dass er ein düsteres Geheimnis mit sich herumtrug und ihn deswegen anhimmeln. Alle dürsteten ja danach, etwas Besonderes zu sein, und er war es: Er hatte einen Menschen kaltblütig ermordet, und es belastete ihn nicht im Geringsten, dass ein anderer für ihn mindestens 15 Jahre im Gefängnis saß. So war das Leben eben, was konnte er dafür.

Berauscht von seiner kommenden Bedeutsamkeit, verließ er gegen 22 Uhr seine Arbeitsstätte und ging zur Domsheide, um mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Die Linie 2 brachte ihn nach Sebaldsbrück, von wo er bis zur Pletzer Straße, wo er unterm Dach zur Untermiete wohnte, nur wenige Minuten zu laufen hatte.

Während der Fahrt hing er seinen Gedanken nach. Der Besuch von Woytasch hatte ihn nicht sonderlich beunruhigt. Sollten sie das Verfahren ruhig wieder aufrollen, nach so vielen Jahren hatte er nichts mehr zu befürchten. Zu beweisen war ihm nichts, da konnte Klütz noch so eindringlich seine Unschuld beteuern. Auch von Angela drohte keine Gefahr, und mit Sandra Schulz hatte er nie Probleme gehabt, warum sollte die ein Interesse daran haben, ihn in die Pfanne zu hauen. So konnte er ganz berlinisch denken: Ihr könnt mich mal alle!

Am Steintor stieg Silke in die Straßenbahn. Mit der schlief er ab und an mal oder ging mit ihr ins Weserstadion, um Werder siegen zu sehen; es war nichts Ernsthaftes. Sie arbeitete als Verkäuferin in einer Bäckereikette und war eine ansehnliche Vertreterin der Generation Doof, aber nach Angela, die ständig so verquält herumgelaufen war wie eine Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, tat sie ihm unheimlich gut.

Silke überredete ihn zu einem Quickie bei sich zu Hause, und so war seine Stimmung glänzend, als er endlich in sein Zimmer trat. Auf seinem kleinen Schreibtisch lag ein dickes Kuvert, von seiner Wirtin dort platziert, und schon von Weitem erkannte er das Signet des Verlages, dem er das ›Urug‹-Manuskript geschickt hatte. Ein alter Hase hätte sofort gewusst, dass dies nichts anderes als Ablehnung des Stoffes heißen konnte, er aber dachte, man hätte ihm das Ganze wegen ein paar kleinerer Korrekturen nach Bremen geschickt.

Doch als er den Umschlag aufgerissen und den Begleitbrief gelesen hatte, war ihm zumute, als hätte er gerade sein Todesurteil vernommen. Nicht gedruckt zu werden, hieß ja irgendwie auch, nicht leben zu dürfen. Ende, aus!

Er fiel auf sein Bett und dachte, dass dies nichts anderes sein könne als die gemeinsame Rache von Schulz und Klütz. Jetzt bist du genauso tot wie wir!

Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er daran, allem ein Ende zu machen, sich selbst zu erlösen. Aber wie? Sollte er mit dem Rad nach Osterholz-Tenever fahren und sich von einem Hochhaus stürzen? Sollte er nach Mahndorf laufen, um sich vor den nächsten Zug zu werfen? Sollte er zum Dobben fahren und einem Polizisten die Waffe entreißen, um sich damit zu erschießen? Oder sollte er zu Hause bleiben und alle seine Schlaf- und sonstigen Tabletten auf einmal schlucken?